Identität und Lebensführung bei COPMI – mit Entlastung zur Entscheidung

Identität und Lebensführung hängen eng miteinander zusammen – um nicht zu sagen: sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer ich bin, drückt sich unmittelbar in meiner Art und Weise zu leben aus. Diese Art und Weise wiederum basiert auf Entscheidungen, die ich getroffen habe. Diese Entscheidungen wiederum treffe ich, weil ich (im besten Falle: sicher) weiß, was ich will.

Picture by Nátalie Rodrigues

Zwei Faktoren von Stress

Bei COPMI ist diese Selbstwahrnehmung massiv gestört. Vor allem zwei Faktoren hemmen die Entscheidungsfindung besonders.

Da ist zum einen der Stress, den das erkrankte Elternteil per se schon auslöst. Etwa die Unsicherheit, was als nächstes passieren wird bzw. was die Mutter oder der Vater schon wieder angestellt hat, führt zu angstbeladenen Situationen.

Zum anderen kann dem Kind nicht in gleichem Maße eine Unterstützung (Erziehung!) zuteil werden, da das Elternteil in seiner Erziehungsfähigkeit eingeschränkt ist. Rückmeldungen, Aufmerksamkeit, Unterstützung – kurz: Liebe ist hierbei also begrenzt im Vergleich zu anderen Kindern. Das führt ebenfalls zu Stress, weil das Kind fordert diese Befriedigung der Bedürfnisse ein, kann deren Ausbleiben aber nicht sanktionieren. Etwa muss es lernen, mit Angst und Unsicherheit umzugehen und sich zu regulieren, also zur Ruhe kommen zu können. Das aber geht nur mithilfe der Eltern.

Beides beeinträchtigt die Ausbildung der eigenen Identität massiv, denn Entscheidungen bedürfen dem Zugang zu den eigenen Emotionen, da Entscheidungen vielmehr mit „Bauch“ zu tun haben als mit „Kopf“. Auch ist das „Bauchgefühl“ viel schneller als die „Vernunft des Kopfes“, wie wir nicht erst seit Daniel Kahneman wissen. Eine ruhige Minute zum Nachdenken zu fordern, reicht also nicht aus. Und selbst dann: sollten sich Entscheidungen nicht auch gut anfühlen?

Was aber, wenn das Gefühl nicht mitmacht? Was, wenn der Zugang zum eigenen Selbst versperrt ist, etwa, weil keine innere Ruhe einkehren will?

Anders gesagt: Wem fällt es schon leicht, in stressigen Situationen wichtige Entscheidungen zu treffen? Und wenn die Fähigkeit zum Fällen von Entscheidungen noch zusätzlich eingeschränkt ist, weil ich über Jahre nicht habe lernen können, wie das denn so geht mit Entscheidungen (denn auch das ist Erziehung: zu lernen, für sich selbst zu sorgen), dann wird es nahezu unmöglich, hier zu einer sich gut anfühlenden Lösung zu kommen.

Entlastung des Kindes vs. Förderung der Resilienz

Damit rückt die Forderung der Entlastung des Kindes wieder in den Fokus. Denn wie anders kommt das Kind sonst zu seiner eigenen Entscheidungsfähigkeit? Oftmals werden stattdessen die Resilienzen, also die Widerstandskräfte des Kindes gestärkt, bzw. wird versucht, diese zu stärken. Nur, Widerstand wogegen? Meiner Ansicht nach muss sich auch das gestärkte Kind nach wie vor gegen die Widrigkeiten durchsetzen. Wäre es da nicht besser, diese Widrigkeiten wären erst gar nicht vorhanden?

Ich möchte nochmals zur Entwicklung der Identität zurückkehren und dabei einen möglichen (negativen) Verlauf im Leben des Kindes skizzieren: Wichtige Entscheidungen kommen vielleicht erst (vermeintlich) spät im Leben. Etwa die Berufswahl. Doch es geht nicht nur um Entscheidungen von solcher Tragweite, wenngleich eine falsche Berufswahl schon schlimm genug ist.

Es geht im Kern um eine alltägliche Aufgabe, denn das Fällen von Entscheidungen passiert jeden Tag, tausendfach: Was esse ich? Was ziehe ich an? Wohin gehe ich? Wen rufe ich an? Was antworte ich worauf?

Der Bezug zu Emotionen besteht dabei in den Fragen: Wie kann ich mich in den anderen einfühlen? Und wie fühle ich mich in mich selbst ein?

Eigene Empathie oder „ich weiß nicht“

Wenn dieses Einfühlungsvermögen – auch Empathie genannt – nicht vorhanden ist, wird jeder Tag zu einer Belastung. Denn Klarheit für sich selbst ist die Grundvoraussetzung, um sich selbst als kosistent zu begreifen. Fängt diese Unsicherheit aber schon früh an, dann „entfernt“ sich das Kind immer mehr von sich selbst. Bis es irgendwann den Eindruck gewinnt, sich selbst nicht zu kennen, nichts zu spüren und daher auch nichts mehr zu wollen. Die Antwort auf viele Fragen lautet dann: „Ich weiß nicht.“

Auf den angedeuteten Verlauf des Lebens bezogen, kann das drastische Folgen haben: Irgendwann breitet sich das eigene Leben vor dem geistigen Auge dieses Menschen aus und sie/er fragt sich, wo sie/er überhaupt gelandet ist. Oder was aus ihrem/seinem Leben geworden ist.

Diese Frage ist keine triviale und sie trifft viele und all jene Menschen, die irgendwann von der allseits bekannten Midlife-Crisis sprechen. Diese Krise ist insofern eine existenzielle Krise, weil sie das eigene Leben infrage stellt.

Falsche Entscheidungen, falsches Leben

Im Falle von COPMI trifft sie dann doppelt hart, denn wenn auch bisher keine guten Entscheidungen getroffen wurden, dann ist schwer vorstellbar, dass der bisherige Lebensverlauf positiv war. wie sollte er auch? Wenn ich nicht in der Lage bin, zu „wissen“, was ich will und daher dann die für mich guten Entscheidungen zu treffen, müssen zwangsläufig unpassende Entscheidungen getroffen worden sein: Beruf, Partner, Hobbys, Freunde… das alles können „falsche“ Entscheidungen sein.

Die Ausbildung der eigenen Identität des Kindes sollte also im Fokus der Unterstützung für COPMI stehen. Nicht Resilienzförderung ist das erste Ziel, sondern Milderung der Belastung. Nur in letztem Falle wird sichergestellt, dass die Fokussierung des Kindes auf sich selbst gefördert wird und somit im bestem Falle auch gelingen kann. Werden stattdessen „nur“ die Widerstandskräfte gestärkt, ist der Mensch dennoch damit beschäftigt, die Bedrohungen zu bewältigen.

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1 Kommentar zu „Identität und Lebensführung bei COPMI – mit Entlastung zur Entscheidung“

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