Weihnachten – ALLES auf einmal

Weihnachten ist die schlimmste Zeit des Jahres. Ich kann immer nur hoffen, dass das Wetter im Herbst lange schön und warm bleibt, weil sich dadurch auch die Weihnachtskontexte in ihrer Gestaltwerdung weiter nach hinten verschieben. Zum Beispiel kommen dann die Nikoläuse später in die Läden – zumindest glaube ich, das einmal beobachtet zu haben. Aber Weihnachten bleibt unaufhaltsam und es schlägt jedes Mal mit voller Wucht zu, wenngleich es sich subtil zu nähern weiß.

Foto von Elly Fairytale

Es sind diese vier Wochen im Jahr, in denen alles zusammenkommt, weil alle zusammenkommen – nur nicht meine Familie. Diese Wochen führen in grausamer Deutlichkeit vor Augen, was man alles nicht hat und diese Fakten werden einem mit ungeheurer Wucht ins Gesicht geschlagen – aber niemand meint das böse! Doch genau darin liegt ja die Schlagkraft, denn keine Schläge tun so weh wie jene, die ohne Bedacht und mit Freudenstrahlen auf den Lippen ausgeteilt werden. Schützen aber kann man sich auch nicht, zu mannigfaltig sind die Attacken. Zugegebenermaßen aber habe ich etwa die geographische Flucht nach Kuba noch nicht ausprobiert, weiß also nicht, ob diese wirksam wäre. Kurz gesagt: Das „Fest der Familie“ wird zum Debakel für jeden ohne Familie.

Viele mögen an dieser Stelle aufschreien und auf ihre zahllosen in ebenfalls einem Debakel endenden Feiertage verweisen, doch diese haben immer die formelle Wahl, ob sie an der Familienfeier teilnehmen. Es ist eine Selbstverständlichkeit für viele, zu ihrer Familie zu fahren und sich vielleicht auch zu beschenken. Diese Selbstverständlichkeit schlägt mir gerade deshalb so in die Magengrube, weil sie nicht in Frage gestellt wird. Die Familie ist da – Punkt. Ich aber hatte keine Wahl zwischen keiner Familienfeier und einer Familienfeier – gleich, ob gut oder schlecht – denn meine Familie war nicht mehr existent.

Keine Familie überall

Nach dem Selbstmord meines Vaters und dem Tod der Großmutter saßen nur noch mein Bruder, mein Großvater und meine Mutter mit am Tisch. Doch meine Mutter war in ihrer Rolle nicht mehr erkennbar. Sie war zwar als Mensch noch präsent, gleichzeitig aber weit davon entfernt, als zurechnungsfähige Mutter durchzugehen, etwa wenn bei vier Personen am Tisch dennoch für sechs gedeckt wurde. Die Wahl zwischen Familie oder nicht, war im Sinne des Vorhandenseins der Familie nicht gegeben. Meine Wahl sah anders aus und sie bestand zwischen „keiner Familie zu Hause“ und „keiner Familie woanders“. Dieser kleine Unterschied ist für mich mit großen Gefühle verbunden.

Schläge lassen sich besser verkraften, wenn man weiß, wie man mit ihnen umgehen kann. Dazu zählt auch, dass man seine verletzlichen, vielleicht schon wunden Stellen kennt, um diese besser zu schützen. Das verhindert freilich die Schläge nicht, vermindert aber vielleicht (oder hoffentlich) die Schmerzen.

Ein Kind psychisch kranker Eltern reagiert mit nahe an der Zerreißprobe stattfindenden Verdrängungskämpfen, wenn es mit seiner Situation konfrontiert wird und diese zugleich noch nicht akzeptieren und annehmen kann, weil es noch nicht ausreichend trauern konnte.

Während mir also alle Welt geradezu zuzubrüllen scheint, dass sie jetzt (bald) zu ihren Familien fahren und Geschenke einkaufen werden, dass sie also Familien haben, fällt mir als erstes ein, dass dies bei mir nicht der Fall ist. Statt aber diesen Umstand soweit als Tatsache akzeptiert zu haben, fühle ich mich vielmehr als „minderwertig“ ertappt und befürchte, plötzlich als „Mensch zweiter Klasse“ durchzugehen. Dies aber darf nicht sein!

Also wehre ich mich gegen die Wahrheit und damit auch gegen eine faktische Ungleichheit, so, als ob ich etwas dafür könnte. Ich will es einfach nicht annehmen, dass mir etwas versagt bleibt und verkrampfe innerlich, so, als würde ich mich vor dem eigenen Leben abwenden. Eigentlich habe ich Angst vor dem Stigma und einer Art Ausschluss aus der Gemeinschaft, doch diese Gefühle können sich gar nicht erst ihren Weg bahnen, denn ich versuche sie schon im Keim zu unterdrücken.

Das Ergebnis ist eine Art Kompensation, indem ich mich besonders aktiv und besonders laut verhalte – und darauf wiederum mit Erschöpfung reagiere. In den Weihnachtstagen komme ich mir dann wie vom Boden abgehoben vor. Ich war zwar anwesend, aber doch nie dabei und stattdessen völlig aufgekratzt und überdreht, versuchte aber dennoch ruhig zu bleiben. Spüren aber konnte ich fast nichts, so hoch war mein Adrenalinspiegel, in etwa so wie bei Prüfungssituation im Examen, in denen man auch nicht immer ganz bei sich ist und sich kalt und völlig nach außen gerichtet fühlt, geradezu hyperaufmerksam. Im Nachhinein kann man oftmals nicht mehr rekonstruieren, wie die Prüfung genau ablief, welche Fragen in welcher Reihenfolge gefragt wurden, weil die Konzentration so hoch war. Man schaltet dabei nur noch auf Reaktion und kann sich den einzelnen Momenten gar nicht mehr hingeben.

Das Geschenketauschen

Seit mehreren Jahre wurde ich von einer befreundeten Familie zum Weihnachtsessen am ersten Feiertag eingeladen. Das ist eine wundervolle Sache! Und doch: Immer war ich dort mit gemischten Gefühlen, konnte mich gar nie richtig über die Einladung freuen, obwohl dort Menschen sind, die ich mag und dazu noch sehr viele. Ich fange dann nämlich sofort wieder an, innerlich in Erregung zu kommen und komme mir vorgeführt vor, beinahe wie ein Versuchskarnickel, auf das dann alle zeigen – und das, obwohl ich weiß, dass niemand der Anwesenden das im Sinn hat. Zugleich ist die Situation eine besondere, denn es gibt ja einen Grund, warum ich eingeladen werde. Dieser liegt nicht (allein) darin, dass ich ein guter Freund der Familie bin.

Wäre dies der einzige Grund, so würden noch mehrere solcher Menschen eingeladen und anwesend sein, die nicht zur eigenen Verwandtschaft zählen und ein Festtagsbraten würde wahrscheinlich nicht ausreichen. Oder alle würden sich gegenseitig zu Weihnachten einladen. Es liegt eben auch daran, dass ich keine eigene Verwandtschaft mehr habe und mit jeder noch so gut gemeinten Geste der Freundschaft und Verbundenheit wird mir ebenso meine Situation vor Augen geführt!

Am schlimmsten ist es, wenn sich alle gegenseitig beschenken: Zehn Menschen tauschen untereinander Geschenke aus, jeder mit jedem – und einer sitzt daneben und guckt zu. Das ist mein Lebensgefühl. Ähnliches passiert, wenn ein Freund von dessen Vater vom Fußballplatz abgeholt wird. Ich dagegen steige aufs Fahrrad (oder später ins eigene Auto) und fahre allein nach Hause.

Beim innerfamiliären Geschenketauschen aber gibt es keinen alternativen Ausweg, der mir innerlich zur Ruhe verhelfen könnte. Schon rein zahlenmäßig prasseln die emotionalen Assoziationen nur so auf mich ein – ich könnte ihnen gar nicht entkommen. Und um mein Gefühlschaos in diesem Moment noch perfekt zu machen, passiert das Unfassbare, mit dem mir mein letzter Halt unter den Füßen weggezogen wird: Ich bekomme ein Geschenk!

Jetzt ist es um mich geschehen. Eben noch war ich ganz verloren in meiner Annahme, dass ich hier nur als Anschauungsobjekt diene; dass man sich umso mehr freuen kann, wenn es anderen noch schlechter geht; hatte den Eindruck, dass ich mehr geduldet als gewollt bin, dass ich mehr ertragen werde als erwünscht bin. Schon wollte sich innerer Groll breit machen, schon wollte ich mich auf die Rolle des still Leidenden einrichten – und jetzt das!

Ich möchte natürlich auch in Zukunft gerne eingeladen werden und ich empfange auch gerne Geschenke. Es soll mich niemand aus Sorge um meine Gefühle lieber links liegen lassen, denn ich habe an Weihnachten lieber Gefühle des elternlosen Kindes als (zusätzlich noch) die eines verlassenen und einsamen Menschen.

Wünsche und Bedürfnisse

Wie aber lief das Weihnachten bei uns zu Hause ab? Denn erst später wurde ich am ersten Feiertag eingeladen. Lange Zeit bestand bei uns Weihnachten lediglich aus dem 24. Dezember. An den Feiertagen waren für mich eher sporadische Treffen mit Freunden angesagt. In den USA begann ich damit, mich lange Zeit auf bestimmten Webseiten herumzutreiben, auf denen man sich kostenlos anmelden und sich schriftlich der Welt mitteilen konnte. Unter anderem bestand dort auch eine Art schwarzes Brett, das täglich von einem anderen Thema beherrscht wurde. Eines Tages war dieses Thema „Wie verbringst Du Weihnachten?“ – und mein Beitrag war, ganz im Stile der Zeit ohne Groß- und Kleinschreibung, der folgende:

„also ich fahre irgendwann gegen nachmittag nach hause. mit meinem auto. meine mutter wird da sein. und sonst niemand.

mein bruder ist währenddessen irgendwo in süd-ost-asien – wo genau, weiss ich nicht.

es gibt keine plätzchen, denn meine mutter backt schon seit langem keine mehr, trotzdem wird es sehr viel zu essen geben. um genau zu sein, so viel wie für 6 personen. so nämlich, als ob mein vater, mein bruder, mein opa und meine oma noch da wären. das heisst also, dass es die nächsten zwei wochen dasselbe der nächsten drei tage zu essen geben wird.

Meine Mutter an Weihnachten ca. 2002
(meine Mutter an Weihnachten ca. 2002)

doch das könnte ich nicht ertragen, also wird meine mutter die nächsten vier wochen das selbe der nächsten drei tage essen.

ich habe ihr ein geschenk gekauft und ich weiss, dass sie keines für mich haben wird – zumindest gehe ich davon aus. wir werden essen, und dann gebe ich ihr mein geschenk.

vielleicht später, wenn ich den ersten bailey’s getrunken habe, versuche ich ein, zwei lieder auf meiner gitarre zu spielen und sie singt vielleicht dazu. natürlich weihnachtslieder. ich kann nicht gut gitarre spielen, denn ich bin eigentlich schlagzeuger. gerne würde ich auch auf meinem schlagzeug spielen, das noch zu hause im keller steht, aber ich traue mich wegen der feiertage nicht und ich habe keinen bock, plötzlich die bullen an der haustür zu begrüßen, weil sich ein bescheuerter nachbar aufgeregt hat.

dann sitze ich vorm fernseher und warte. ich warte auf den anruf einer freundin, die mein schicksal teilt, nur auf spiegelbildliche art und weise: sie verlor ihre mutter.

wir werden uns treffen und uns zum ersten mal dinge sagen, die wir uns schon längst hätten sagen sollen. wir werden uns gegenseitig anerkennen und uns verstehen und deswegen gehen wir auch nicht zu dem treffen der alten schulfreunde, die sich immer am 24. abends bei einem freund zu hause treffen, denn die stimmung dort passt gerade ganz und gar nicht zu unserer stimmung – das hat sie noch nie, nur jetzt werden wir zum ersten mal auch danach handeln.

ich werde noch mehr bailey’s trinken und dann halb angetrunken nach hause fahren, mit dem auto – in mein zu hause, denn bei meiner mutter, in meinem alten zu hause, kann ich nicht schlafen…

und dann kommt der erste weihnachtsfeiertag…“

Weil ich damals noch nicht bei der befreundeten Familie eingeladen war, wusste ich nicht, was an den Feiertagen passieren würde, und obwohl ich davon ausging, mich mit der besagten Freundin zu treffen, fand auch dies nicht statt, weil sie sich wiederum mit einer anderen Freundin getroffen hatte und deren Unterhaltungen kein Ende nehmen wollten. Aber es gab zu dieser Zeit die Tradition, am Weihnachtsabend zum Haus eines Schulfreundes zu gehen, wo sich zu später Stunde viele Freunde einfanden.

Dort saß man dann bei Kaminfeuer im Wintergarten und Wohnzimmer und unterhielt sich über das vergangene Jahr, in dem man sich später in der Regel nur wenig gesehen hatte, und ließ den Alkoholpegel noch etwas weiter steigen. Ich war also in entsprechend schlechter, gar niedergedrückter Stimmung, denn nun hatte ich eine lange Zeit zu warten, nachdem ich mit meiner Mutter um acht Uhr schon mit dem Essen fertig war und sie sich wieder ins Schlafzimmer legte, wo sie die meiste Zeit des Tages verbrachte.

Sie hatte auch nicht singen wollen, als ich mit der Gitarre anfing. Ich dachte, das sei doch ein schöner Versuch und würde gerade ihrem beinahe schon pedantischem Drang vermeintlicher Familientradition entsprechen. Früher hatten wir immer Lieder gesungen, meine Oma und meine Mutter bestanden darauf. Mir gefielen diese Dinge nie wirklich, sie wirkten aufgesetzt und mit der Zunahme der Krankheit meiner Mutter gar noch mehr.

Ich und meine Wünsche wurden nicht erkannt, wichtiger war es, den Schein der funktionierenden kleinbürgerlichen Familie zu wahren. Sicherlich können sich Kinder für wenige Minuten zum Singen beim Weihnachtsfest auch zurücknehmen und abwarten, bis dieser Punkt der Veranstaltung abgehakt wurde, aber als Missachtung meiner Wünsche und Bedürfnisse traf dieser Moment gleichzeitig auch einen wunden Punkt. Ich hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass meine Mutter auch nur im Kern verstand, wie mir zu mute war und warum ich das Gesinge schon vor dem Tod meines Vaters nicht mochte.

Über diesen Zusammenhang schob sich dann noch die Unverständlichkeit der Krankheit, wie etwa das überflüssige Auftragen von Gedecken für Menschen, die entweder gar nicht da waren oder schon nicht mehr lebten. Oder das Abwenden des Kopfes in Richtung Terrassentür nach wenigen Minuten, bei dem sich dann ihr Mund so bewegte, als spräche sie zu jemandem. Doch was heißt hier „als“? Sie sprach tatsächlich zu jemandem, in ihrer Vorstellung und ihrem Eindruck nach kommunizierte sie mit anderen Menschen, anderen Mächten, die sie nicht in Ruhe lassen wollten.

„Große Disputanten“

Das Weihnachtsfest war noch zu der Zeit, als mein Bruder zugegen war und zumindest unser Opa noch lebte, einer der wenigen Momente, in denen wir zusammen für längere Zeit an einem Tisch versammelt waren. Dabei entwickelten sich auch immer Konversationen, die schnell wieder technischen Inhalts waren, weil es vorwiegend um Dinge ging, die in irgend einem Verhältnis zur Krankheit unserer Mutter standen und sei es nur, weil irgend jemand anderes etwas hatte erledigen, bedenken oder beachten müssen, was bei gesunden Verhältnissen in ihren Aufgabenbereich gefallen wäre.

Das schlechte Verhältnis zu meinem Bruder trug natürlich dazu bei, dass sich diese Unterhaltungen schnell zu hitzigen Debatten entwickelten. Doch das war nicht erlaubt, weil es sich nicht gehöre. Dabei konnte man einigermaßen klar eine Art Kontinuität in der Erziehung über die Generationen beobachten: nicht nur mein Großvater (früher zusammen mit unserer Großmutter), sondern auch meine Mutter waren sofort zur Stelle, diese Diskussionen zu unterbinden.

An Weihnachten wurde gesagt, dass man das an Weihnachten nicht machen würde und an gewöhnlichen Tagen wurde argumentiert, dass das nicht zu den guten Tischsitten gehören würde. Sind Familienstreitereien nicht gerade an Weihnachten eher an der Tagesordnung und zählen damit zur Mehrzahl jener Ereignisse, mit denen die meisten Familien zu kämpfen haben, indem sich im Hexenkessel der durch Weihnachten zusammengeführten Familienmitglieder angestaute Konflikte entladen? Das mag sein.

Worauf es mir aber ankommt, ist die Unfähigkeit in meiner Familie, mit Konflikten umzugehen. Man musste beinahe den Eindruck gewinnen, dass sich dahinter die Angst vor dem Zusammenbruch der Familienbande versteckte. Von „Diskussionskultur“ gab es nur dann etwas zu entdecken, wenn unser Großvater als außenstehender Beobachter die verbalen Entladungen von mir und meinem Bruder oder zwischen uns beiden als „große Disputanten“ kommentierte.

Selbst also wenn man zu ihm sprach, wurde entweder die Argumentation abgewürgt oder aber er distanzierte sich durch einen Kommentar zum Gerede von einer Diskussion als solcher, beinahe schon in einer Weise, die das alles vielleicht nicht ins Lächerliche ziehen wollte, aber doch zumindest belächelte. Dahinter steckte die reine Unfähigkeit, mit Diskussionen oder mit Konflikten umzugehen.

Ich stelle mir die Erziehung meines Großvaters als Kind eher autoritär als integrativ vor. Meine Mutter wurde demnach ähnlichen Methoden ausgesetzt und war wohl auch sonst nicht gerade eine Frau des gesprochenen Wortes. Wir waren eben eine Arbeiterfamilie der unteren Mittelschicht.

Ich habe einmal eine Videoaufzeichnung gesehen, die von einer Mutter-Kind-Station für psychisch erkrankte Mütter gemacht wurde. Darauf war ein Vergleich zu sehen, der dieselbe Mutter mit ihrem Kind vor sowie einige Wochen nach der Behandlung zeigte. Vor der Behandlung sah man darauf eine Frau, die beinahe vollständig apathisch ihrem Kind gegenüberstand. Sie versuchte sich mit dem Säugling zu beschäftigen, so hatte man den Eindruck, konnte aber gar keinen empathischen Kontakt aufbauen. Das Kind erschien beinahe wie ein der Mutter nichts sagendes Etwas.

Im Vergleich dazu war das spätere Miteinander viel aktiver und vor allem hatte man den Eindruck, die Mutter erfreue sich auch an ihrem Neugeborenen. Meiner Mutter tut dieser Vergleich zunächst unrecht, schon weil sie es ja irgendwie geschafft hatte, meinen Bruder und mich soweit zu versorgen, dass wir nicht auch psychotisch geworden sind. Es muss also Liebe gegeben haben, auch wenn diese später gänzlich versiegte oder zumindest in unserer Pubertät keine adäquaten Umgangsformen entwickeln konnte. Aber das Bild der apathischen Mutter illustriert annähernd, wie ich mich im Rückblick gefühlt habe, was die zwischenmenschliche Kommunikation, auch das eigentliche Diskutieren in unserer Familie angeht.

Kein elterliches Korrektiv

Mit dem beinahe schon mechanisch anmutenden Herabwürgen der Unterhaltung am Weihnachtstisch wurde eine Distanz zwischen unserer Mutter auf der einen und meinem Bruder und mir auf der anderen Seite hergestellt. Durch die Diskussion vor einem Elternteil suchten wir nach einem Rahmen, in dem wir uns auseinandersetzen konnten und in dem aber immer auch im Falle des Falles eine verlässliche Regulierung stattfand, die uns aber gleichzeitig auch gewähren ließ. Indem mein Bruder und ich uns stritten, wollten wir eigentlich auch in Kontakt mit unserer Mutter treten. Wir wollten ausprobieren, ob wir verstanden werden, nicht unbedingt inhaltlich, aber vor allem in unserem Bedürfnis nach einem gewährenden, aber auch wohlwollend regulierendem Schiedsrichter.

Stattdessen wurden unsere Erwartungen enttäuscht, oder besser gesagt, meine Erwartungen, denn ich kann nicht für meinen Bruder sprechen. Allerdings wusste ich schon von vornherein, dass die Enttäuschung eintreten würde. Und dennoch versuchten wir es immer und immer wieder. Durchaus bestand die Notwendigkeit und auch das Interesse am kommunikativen Austausch, aber wir waren auch immer Kinder, auf der Suche nach der Befriedigung ihrer Bedürfnisse.

Durch die Distanz unserer Mutter jedoch waren wir auf uns alleine gestellt und so musste es gleichsam zwangsläufig zu Streitereien kommen. Nicht nur fühlte ich mich durch die fehlende sinnvolle und auch mir verständliche Begrenzung oder Richtlinie durch eine Orientierungsperson im luftleeren Raum, sondern auch mein Frust über dieses mangelhafte Sicherheitsgefühl musste sich entladen und der vermeintliche Opponent war ja – leider – schon vorhanden.

Auch gute Bekannte sind überfordert

Da es zu dem geplanten Treffen mit der Schulfreundin nicht kam, war ich auf mich alleine gestellt. Ich verließ das Haus und musste nun die Zeit tot schlagen. Ich verabredet mich für später in einer Kneipe mit einem Freund, den ich von der Grundschulzeit her kannte. Er selbst wollte nicht zu lange bei den Eltern am 24. sein, da es für ihn erst mit der Ankunft seines Bruders am 25. richtig feierlich würde. Dieses Treffen sollte sich in den Folgejahren wiederholen und es bewahrte mich vor vergleichbaren Abenden des Alleinseins bis zehn Uhr, das ich nicht abwarten konnte.

In diesem Jahr hatte ich ja noch eine weitere Verabredung zu später Stunde mit weiteren Schulfreunden und so verabschiedete ich mich von ihm und streifte durch die verlassenen Gassen der Altstadt. Es war recht warm für die Jahreszeit, der Wunsch von weißer Weihnacht war schon seit Jahren nicht mehr in Erfüllung gegangen. Ich lief an meiner alten Schule vorbei und kam mir dabei vor wie ein Fremder, der niemals richtig dort gewesen war. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und entschied mich, nun endlich den Weg zum Elternhaus jenes Freundes einzuschlagen, bei dem die späten Treffen stattfanden.

Ich wollte unbedingt erst später kommen, nie traf vor elf Uhr abends jemand dort ein, und ich freute mich auch darauf, jene Freundin zu sehen, mit der ich mich zuvor nicht hatte treffen können. Punkt elf Uhr stand ich auf der Türschwelle, mein Freund begrüßte mich und als ich die Treppen zum Wohnzimmer nach oben schritt, bemerkte ich, dass ich der erste war. Keiner der anderen war bisher eingetroffen.

Die Eltern meines Freundes saßen am fast leer geräumten Weihnachtstisch und ich setzte mich zu ihnen. Aus dieser Konstellation ergab sich zwangsläufig eine Unterhaltung, die vorwiegend daraus bestand, Fragen zu meiner Person zu beantworten, denn immerhin hatte ich auch die beiden Eltern lange nicht mehr gesehen. Doch meine geglaubte Nähe zu ihnen erwies sich als trügerisch, denn irgendwann erkundigte sich der Vater nach meinem Befinden und ich antwortete mit aller Offenheit, indem ich von meiner schrecklichen Weihnachtszeit, von der Krankheit meiner Mutter, dem ersten Weihnachten ohne den verstorbenen Großvater und überhaupt von meinen Umständen, von denen sie sicher wüssten, berichtete. Doch sie wussten offenbar nichts.

Die Reaktion war in jedem Falle eher stockend, man könnte auch sagen, die beiden Eltern erschienen irgendwie schockiert. Das sei ja auch verständlich, meinte ein Freund, so etwas könne man ja auch nicht erzählen und schon gar nicht am Weihnachtsabend! Ich aber meinte, wann, wenn nicht am Weihnachtsabend kann oder darf man so etwas erzählen?

Für mich war die Meinung meines Freundes nichts anderes, als der oberflächliche Versuch, die Contenance zu bewahren, sich taktvoll zu geben, um ja die feierliche Weihnachtsstimmung nicht zu zerstören. Diese Einstellung hasste ich gerade, weil genau so immer die Weihnachtsfeste zu Hause abliefen: Es wurden zeremonienartig jene Aktivitäten ausgeführt, die in keinem Verhältnis mehr zu den realen Bedingungen standen.

Ich wusste nicht, ob die empfundene Unverhältnismäßigkeit meiner Äußerung vor dem Hintergrund einer zwanghaften Stimmungserhaltung auch auf jene Eltern zutraf. Unverhältnismäßig aber war sie auf jeden Fall, vielleicht nicht im Sinne der Taktlosigkeit, aber wohl doch im Sinne des Unerwarteten.

Vielleicht waren die Eltern einfach nur auf leichte Konversation aus und auf eine Antwort von solch offener Natur schlicht nicht vorbereitet. Wer würde da nicht in Schweigen verharren, würde er oder sie so auf dem falschen Fuß erwischt. Somit erfüllte unangenehme Stille für Sekunden den Raum und ich ließ mich nicht davon abbringen, den angefangenen Weg weiter zu beschreiten. Jetzt, so waren meine Gedanken, werde ich keinen Rückzieher mehr machen können.

Irgendwann erlösten uns die neuen Gäste und ich war sauer, denn ich fühlte mich wieder einmal unverstanden und alleine gelassen. Dieses Gefühl des Unwohlseins blieb bei mir den ganzen Abend über. Das Sahnehäubchen lieferte dann der Freund der Schwester meines Freundes, als er mich in gewohnt heiterer Stimmung fragte, wie es mir denn so ginge. Ich antwortete: „Gerade nicht so gut“ und ich wusste irgendwie, dass diese Antwort nur zu einer weiteren Enttäuschung meinerseits führen musste, dass sie gar eine Art Provokation in diesem Moment war, denn es hätte mich gewundert, wäre es nun zu einem Gespräch empathischen Charakters gekommen.

Und so wurde mir mit einem Schlag der wohlmeinenden Sorte auf meine Schulter entgegnet: „Na, das wird schon wieder, oder?“ Er konnte es wohl in meinen Augen lesen, denn danach gab er auf. Ich aber fühlte mich nur noch mehr als eine Marionette in einem schlechten Puppenspiel. Wie sollte das weitergehen? Wie sollte ich jemals mit meiner Geschichte umgehen können, wenn die Reaktionen immer in überfordertem Rückzug des Gegenübers endeten? Und wie soll das vor allem möglich sein, wenn die anderen offenbar viel zu wenig – weniger als ich mir jedenfalls dachte – über mich wissen und daher von meinen Äußerungen überrumpelt werden?

Im Falle der Eltern war das für mich dennoch verwunderlich, denn immerhin war ich hier bei einem sehr guten Schulfreund! Meinem Lebensgefühl entsprach diese Situation durchaus: Andere sind überfordert, können nicht verstehen, versuchen vielleicht zu helfen und scheitern dennoch. So etwas passiert mir heute noch, wenn ich mit engen Freunden über meine momentane Lage spreche. Natürlich will man sich am liebsten über jenes unterhalten, was einem derzeit am meisten beschäftigt. Aber darüber hat man auch die wenigste Ahnung, daher beschäftigt es einen ja. Sozusagen das Neuste vom Neusten meiner psychosozialen Probleme, „the cutting edge“. Wer soll da mithalten, wenn schon ich selbst nicht voll durchblicke?

Kein selbstverständlicher Umgang

Dass es auch andere Momente gibt, beweist eine andere Begebenheit, die ich just mit jenem Freund erlebte, der sich über die Unverhältnismäßigkeit meiner Äußerungen „ausgerechnet an Weihnachten“ beschwerte. Irgendwann einmal konnte ich ihm nämlich einen grundlegenden Zusammenhang meiner Lebensumstände und der sich daraus ergebenen Konsequenzen für meine Persönlichkeit kurz und knapp darlegen und mit einem greifbaren Beispiel veranschaulichen. Daraufhin entgegnete er, dass er nun zum ersten Mal ein gutes Stück meiner Problematik verstanden hätte. Das war ein gutes Gefühl für mich! Aber dahinter stand auch viel Arbeit im Rahmen therapeutischer Sitzungen. Ebendieser Freund konnte wenige Jahre später noch viel mehr verstehen, als er eine Manie selbst erlebte. Der direkte Kontakt mit einem psychischen Leiden öffnete sein Verständnis und vielleicht auch die Bereitschaft zu und das Interessen an Unterhaltungen mit mir.

Ein selbstverständlicher Umgang mit bestimmten Themen lässt sich natürlich nur über deren Bekanntheit erreichen. Ebenso verliert ein Thema dadurch auch an Unangemessenheit. Man stelle sich vor, wie das geschilderte Gespräch am Weihnachtsabend und die Reaktion darauf ausgefallen wären, wenn die Hintergründe nicht Schizophrenie und Selbstmord, sondern Krebs oder Niereninsuffizienz geheißen hätten. In der Selbstverständlichkeit im Umgang mit bekannten Themen erscheint einem die Kommunikation viel leichter denkbar.

Will man sich einem für alle Beteiligten gesünderen Umgang mit „psychischen Erkrankungen“ nähern, müssen die Bemühungen in eine zunehmende Bekanntmachung des Themas gehen. Das kann, so könnte man meinen, nur jene betreffen, die damit zu tun haben, alle anderen gehören ja nicht zur Gruppe der Beteiligten, es drehe sich also nur um ein Minderheitsinteresse. Vor einer solchen Haltung aber kann ich nur warnen, denn die Zahlen von Betroffenen liegen weit höher als man gemeinhin denken mag. Und außerdem: Wenn Sie von einem solchen Menschen, wie mir und am Weihnachtsabend damit konfrontiert werden, sind Sie dann nicht auch Beteiligter?

P.S.: Dieser Text ist ein Auszug aus meiner Autobiografie „als sei nichts“. Eine genauere Aufstellung der Zahlen von #copmi in Deutschland habe ich im Online-Forum des Vereins Seelenerbe e.V. verfasst. Kurz gefasst: über alle Generationen verteilt gibt es ca. 12-16 Millionen Kinder mit vorübergehend oder dauerhaft psychisch erkranktem Elternteil, sowie 9-12 Millionen erwachsene Kinder.

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