Zusammenfassung
Neben zahlreichen Ansätzen zur Unterstützung von Kindern mit psychisch erkrankten Eltern (engl. Children Of Parents with a Mental Illness – COPMI) stellt auch eine Vermeidung der belastenden Situationen zu Hause eine Möglichkeit dar, den betroffenen Kindern zu helfen – also, deren Belastungen zu reduzieren.
Wenn das Kind in anderen Versorgungsstrukturen leben und Hilfe erleben kann, wäre dies vorzuziehen. Das hilft den Kindern dabei, traumatische Erlebnisse zu vermeiden und sich besser zu entwickeln – so die These des nachfolgenden Beitrages.
Zugleich wird klargestellt, dass es sich um kein Allheilmittel und schon gar nicht um ein allgemeingültiges Vorgehen handeln kann. Vielmehr ist die individuelle Beurteilung der Rahmenbedingungen oberstes Gebot.

1 Vorbemerkung
Die folgenden Ausführungen sind der Versuch einer Antwort auf Rückmeldungen im Anschluss an meine Lesung am 13. September 2019 in der Stadtbücherei von Haltern am See. Die Veranstaltung wurde von ProAnima organisiert und es wurde die Frage gestellt, wie meines Erachtens Kindern von psychisch erkrankten Eltern am besten geholfen werden kann.
Meine knappe Antwort im Rahmen der Veranstaltung war: „Das Kind muss raus aus der Familie.“
Dieser kurze Satz löste nachvollziehbare Irritationen bei den Zuhörer*innen aus. Auch blieb damals zu wenig Zeit, um diesen Satz umfassend zu erläutern. Denn diesmal wurde der Satz im Nachgang zu meiner Lesung gesagt und nicht wie sonst während einem meiner Vorträge oder Workshops.
Hinzu kam, dass auf der Lesung auch betroffene, also psychisch erkrankte Eltern anwesend waren. Diesen waren vermutlich deshalb irritiert, weil die Befürchtung genährt wurde, die Eltern würden ihre Kinder verlieren können. Aber nichts liegt mir ferner.
Auf einer Lesung ist die Zuhörerschaft eher privater Natur. Workshops oder Vorträge hingegen finden oftmals im Rahmen einer Fachveranstaltung, eins Fachtages oder einer Fortbildung statt. Es sind dann vorwiegend Fachleute anwesend (auch wenn die Veranstaltungen i.d.R. öffentlich sind) und entsprechend professionell distanziert ist der Blick auf die Thematik.
Ich freue mich immer, dass ich mit Lesungen eher Privatleute anspreche, denn für vorwiegend ebendiese habe ich mein Buch geschrieben. Zugleich haben Lesungen einen wesentlich geringeren Anteil an den Terminen, die ich als Vortragender absolvieren darf. Ich war also nicht ausreichend gut auf die Rückfragen vorbereitet – wofür ich um Entschuldigung bitten und Besserung geloben möchte.
Diese Replik möge ein Teil davon sein.
Wünsche
Wenn ich dazu eingeladen werde, einen Workshop durchzuführen, dann wird oftmals gewünscht, dass ich mich auf hilfreiche Unterstützungsstrukturen beziehe. Daher habe ich einen Workshop bzw. Vortrag mit dem Titel „Wünsche an das Hilfesystem“ erarbeitet, der sich unter verschiedenen Gesichtspunkten dem Thema nähert. Das Formulieren von Wünschen ist dabei ein Aspekt.
Einer meiner Wünsche ist: „Das Kind muss raus aus der Familie“.
Ich habe auch andere Wünsche und Vorschläge, so zum Beispiel: „Das Kind braucht privat stabile, regelmäßige Kommunikationspartner“ und wieder ein anderer Wunsch lautet: „Das Kind braucht Rückspiegelung.“
Meine Wünsche sind also Zuspitzungen oder Merksätze, die einen Zusammenhang komprimiert erfassen wollen – aber sie lassen somit auch sehr viel Interpretationsspielraum und können eigentlich ohne weitere Erläuterung nicht zwingend richtig verstanden werden.
Der Wunsch „Das Kind muss raus aus der Familie“ ist ein Extrem und löst bei den Zuschauern demnach auch die meisten irritierenden Assoziationen aus. Letztlich soll er aber vor allem heißen: Belastungen zu reduzieren.
Um auf diese Irritationen zu antworten, habe ich den vorliegenden Text verfasst.
2 Ausgangssituation
Ich gehe davon aus, dass die Belastungen, von denen ich hier spreche, insofern von den psychisch erkrankten Eltern ausgehen, als diese ihrer Rolle als Eltern nicht mehr vollständig gerecht werden können. Ein komplexer Sachverhalt also, denn psychische Krankheiten äußern sich unterschiedlich stark. Etwa kommt sie bei dem einen Menschen in Phasen oder Schüben, während sie bei einem anderen ständig präsent ist.
Daneben äußern sie sich in unterschiedlichen Formen. Ein Depressiver zeigt andere Charakteristika als eine paranoid Schizophrene – und auch innerhalb der jeweiligen Krankheitsgruppen kann es ganz unterschiedliche Symptomatiken geben.
Nicht zuletzt ist entscheidend, ob bei der oder dem Erkrankten überhaupt Krankheitseinsicht besteht. Auf das Thema Krankheitseinsicht werde ich gesondert zu sprechen kommen.
Verschiedene Belastungen
Wenn ich von Belastungen für das Kind spreche, dann heißt das folgendes: Das Kind wird mit verschiedenen Dingen konfrontiert, die ihm das aufwachsen erschweren:
- erschwerte Kommunikation,
- erschwertes Einfühlen der erkrankten Eltern in die Situation des Kindes,
- die erkrankten Eltern können verschiedene Handlungsbedarfe übersehen,
- drohende Parentifizierung des Kindes,
- Überschreitung sensibler Grenzen des Kindes
- und vieles mehr.
Das Kind aus der Familie zu nehmen ist also nur eine Möglichkeit, den Belastungen des Kindes angemessen zu begegnen.
Aber „Belastungen reduzieren“ ist ein unbestimmter Ausdruck, weil er einen weiteren Interpretationsspielraum eröffnet. Denn man kann Belastungen durch Ansätze auf zwei verschiedenen Seiten reduzieren: zum einen, indem auf der Seite der Empfänger (Kinder) diesen Belastungen entsprechend begegnet wird und zum anderen, indem auf der Seite der Erzeugung (Eltern) weniger Belastung generiert wird.
Zugleich gehe ich davon aus, dass sich die Situation der Eltern nicht so leicht und vor allem schnell ändern kann. Selbst therapeutische Eingriffe, gleich welcher Natur, verändern die Situation nach meiner Auffassung zunächst nur bedingt. . Mit anderen Worten: Mir ist beispielsweise keine eine Heilung (im eigentlichen Sinne) einer paranoiden Schizophrenie bekannt.
Demgegenüber geht es mir um die Seite des Empfangens, also um die Kinder von psychisch Erkrankten, aus deren Sicht ich auf die Zusammenhänge blicke. Grundsätzlich haben Kinder begrenzte Ressourcen, gerade wenn es um die Reflektion der eigenen Situation geht.
Diese Situation wiederum kann sich sehr unterschiedlich darstellen – und sie muss es auch. Denn nicht jede Lebenssituation ist mit der anderen deckungsgleich, nicht jede Psychose äußert sich gleich und kein Mensch gleicht dem anderen. Alle diese Faktoren multiplizieren die Vielfältigkeit von Lebensumständen und entsprechen damit der Einzigartigkeit jedes Menschen. Daher bedarf es einzelfallbezogener Lösungsansätze.
3 Einzelfallbeurteilung
Die Einzigartigkeit in den Lebensumständen und der Persönlichkeit des Kindes macht einen individuell maßgeschneiderten Lösungsansatz erforderlich.
Verschiedene Faktoren müssen bei der Beurteilung des Einzelfalls berücksichtigt werden. Dazu gehören:
- Sind beide oder nur ein Elternteil betroffen?
- Welcher Art ist die Erkrankung des Elternteils?
- Wie stark ausgeprägt ist die Erkrankung des Elternteils?
- Wie kontinuierlich äußert sich die Erkrankung des Elternteils?
- Gibt es auch Phasen der Entspannung?
- Gibt es weitere (nahestehende) Angehörige des Kindes?
Dies ist eine unvollständige Liste, die sicher noch erweitert werden kann. Sie soll ein Gefühl dafür vermitteln, dass die Beurteilung des Einzelfalls keine triviale Aufgabe ist, weil die beeinflussenden Faktoren so vielfältig sind.
3.1 Fallbeispiel: Meine eigene Dauerbelastung
In meinem eigenen Fall war das erschwerende Problem meine krankheitsuneinsichtige Mutter. Sie litt an paranoider Schizophrenie. Meine Mutter konnte nie (!) weitgehend klar und frei von ihren Ängsten (Paranoia) und Wahnvorstellungen reagieren oder interagieren. Sie selbst und damit ihre Umwelt – also auch ich – waren immer den Effekten der Krankheit ausgesetzt.
Daneben gab es nur noch die Großeltern mütterlicherseits als einzige Verwandte, die auch Verantwortung übernehmen konnten. Meine Großeltern aber waren nicht in der Lage, mit der Krankheit meiner Mutter „richtig“ umzugehen.
Und was ist schon richtig? Die Beschreibung dieser Sachverhalte würde für den vorliegenden Text sicher zu weit führen, aber es sei gesagt, dass meine Großeltern mit den Jahrgängen 1916 (Großvater) und 1920 (Großmutter) zum einen zur Kriegsgeneration gehörten und zum anderen die Krankheit aus Scham negierten.
Meine Eltern hatten ein Haus gebaut und die größte Sorge meines Großvaters war, dass dieses dem Staat anheimfallen könnte, würde unsere Mutter in stationäre Behandlung kommen. Wahrscheinlich hatte er damit sogar recht, denn wir verfügten über zu wenig finanzielle Mittel, um eine Unterbringung bezahlen zu können.
Auch hofften meine Großeltern, dass meine Mutter wieder gesund würde. „Das wird schon wieder“ war ein Satz, der öfters gesagt wurde. Er illustriert, wie selbstbetrügerisch die Wahrnehmung der Situation war, denn natürlich wurde nichts besser. Auch damals – in den 90er-Jahren – wusste man schon, dass eine unbehandelte Schizophrenie sich stets verschlimmert.
Die Krankheitsuneinsichtigkeit meiner Mutter machte eine Behandlung unmöglich. Sie hatte Angst, umgebracht zu werden. Daher ließ sie niemanden an sich heran, der ihr auch nur annähernd fremd erschien. Und fremd war alles, was sie nicht schon aus den Jahren ihrer Kindheit kannte. Aber selbst befreundete Bekannte von damals konnten sie nicht mehr „erreichen“ und erst recht kein Arzt.
Zusammengefasst war die Situation zu Hause für mich eine Dauerbelastung, aus der ich auch deshalb nicht herauskam, weil mir von den Großeltern indirekt aber deutlich vermittelt wurde, dass ich hier Verantwortung zu übernehmen hätte.
Ich war also in der gesundheitsschädigenden Situation gefangen.
3.2 Indizierte Problemlösung in meinem Fall
Es wäre sicherlich meiner Entwicklung zuträglich gewesen, wenn ich nicht zu Hause geblieben wäre.
Gehen wir davon aus, ich wäre in ein Heim gekommen:
- Ich hätte mit stabilen Gesprächspartnern sprechen können.
- Es wäre nicht jede Nacht jemand in mein Zimmer gerannt und hätte tränenüberströmt herumgeschrien und mich angefleht, ich solle mein Geld verstecken.
- Ich hätte mich nicht schämen müssen, wenn Besuch zu mir kam.
- Ich hätte Rückmeldungen zu mir und meinem Verhalten bekommen, die mich in meiner Identität gefördert und mich mehr zu mir finden hätten lassen können.
Und ja, ich hätte wahrscheinlich meine Mutter vermisst – und mich schuldig gefühlt, dass ich sie alleine lasse. Aber ist dieser Preis nicht klein im Vergleich zu den gewonnenen Vorteilen?
Diese Möglichkeit aber wurde nicht an mich herangetragen.
Entlastung muss erst möglich sein
Aber wäre es ausreichend gewesen, hätte ich immer zu meinem Großvater gehen können, wenn ich gewollt hätte? Oder wenn ich zu Freunden gegangen wäre, anstatt zu Hause zu schlafen? Und wann wäre das jeweils angezeigt gewesen?
Als 16-Jähriger hatte ich einmal den Wunsch formuliert, dass meine Mutter doch in eine Klinik kommen solle. Aber dieser Wunsch blieb unerfüllt. Auch spürte ich den Wunsch, dass ich vielleicht lieber in ein Heim gehen wollte, aber ich hielt die Vorstellung von der Enttäuschung meines Großvaters nicht aus, die dieser ganz sicher gezeigt hätte.
Vielleicht hätte ich bei meinen Großeltern wohnen können, so wie mein Bruder. Der wurde wegen schlechter Schulleistungen zum Großvater geholt, damit dieser mit den Hausaufgaben helfen konnte. Ich aber war zu funktionsfähig und zu leistungsstark. Meine Ressourcen haben mich also in der häuslichen Hölle verbleiben lassen.
Zugleich erschien es mir nicht legitim, mein Elternhaus zu verlassen. Zu groß wäre mein empfundenes Schuldgefühl gewesen – auch meinem Großvater gegenüber. Die Passivität der Umwelt in diesem Zusammenhang machte mir somit das Verlassen der belastenden Situation unmöglich. Und eben genau darum geht es mir: Dass diese Variante – das Verlassen der belastenden Situation – mehr Aufmerksamkeit erfährt.
Zur Beurteilung der jeweils individuellen Situation eines Kindes gehört also auch, inwiefern das familiäre Umfeld die Befreiung von der Belastung zulässt.
4 Krisen erkennen – Belastungen reduzieren
Die Quintessenz meiner Erfahrungen war demnach für mich: Wenn ich über beinahe zehn Jahre den täglichen Belastungen nicht ausgesetzt gewesen wäre, hätte ich heute weniger mit den Folgen zu tun.
Und da bei mir nahezu immer der Ausnahmezustand, eine Dauerkrise herrschte, eine häusliche Hölle, die mit dem Ausfall von Befriedigung wichtiger kindlicher Bedürfnisse einherging, wäre ich wohl besser nicht zu Hause geblieben.
Ich bin also der Auffassung, dass die häuslichen Belastungen einen direkten Effekt auf die Entwicklung und die damit verbundenen, späteren Chancen des Kindes in der Welt haben.
Zwar steht m.E. noch die nötige Debatte aus, inwiefern diese Belastungen zu psychischen Traumata (also seelischen Verletzungen), zu Ängsten und/oder anderen Hemmnissen führen. Ich bin aber davon überzeugt, dass eine Verbindung besteht.
Wann immer sich also die Belastungen akut einstellen, wäre es meiner Ansicht nach besser, wenn das Kind diesen nicht ausgesetzt wäre. Dies wirft weitere Fragen auf:
- Wann wird die Krise als solche erkannt?
- Wer erkennt diese Krise?
- Wie werden die notwendigen Schritte eingeleitet?
Allein diese drei Fragen machen deutlich, wie komplex der Vorgang ist, wenn es um die Einleitung von entlastenden Momenten geht. Und wie genau sollen diese Momente dann aussehen? Wie genau soll die Entlastung vonstatten gehen?
4.1 Resilienzförderung oder Belastung reduzieren?
Resilienzförderung ist grundsätzlich richtig. Denn natürlich ist es wichtig zu wissen, was und warum etwas von innen heraus hilft und was die eigene Widerstandskraft des Kindes fördert.
Meines Erachtens kommen unterstützende Maßnahmen der Resilienzförderung aber insofern zu spät, als das Kind in den meisten Fällen bereits in der belastenden Situation steckt, bevor erste Unterstützung ansetzen kann. Daher sehe ich bei diesem Ansatz die Schwierigkeit darin, dass Widerstandskräfte erst erkannt und dann gefördert werden müssen, bevor sich ein Effekt an dieser Stelle zeigt. So etwas braucht Zeit.
Darüber hinaus vermittelt mir als Kind diese Sichtweise das Gefühl: „Ich muss (schon wieder) selbst dafür sorgen, dass es mir gut geht.“ Und so stellt sich abermals die verzweifelte Frage: „Wann wird denn endlich mal etwas für mich getan?“
Resilienzforschung und deren Ansätze drehen sich m.E. also zuvorderst um das Moment der Verantwortungszuschreibung. In Zeiten des „Forderns“ und der zunehmenden, dem Individuum zugeschriebenen Verantwortung für sein persönliches Glück, passt diese Stoßrichtung gut ins allgemeine Bild einer immer weiter erodierenden Solidargemeinschaft. Auf nahezu jeder Veranstaltung, die ich als Teilnehmender besuche, wird über die Erkenntnisse in der Resilienzforschung berichtet.
Was aber, wenn schlichtweg die Quelle der Belastung verschwindet oder abgemildert würde? Dann müsste ich erst gar nicht so viel Energie in den Aufbau und die Stärkung der eigenen Widerständigkeit investieren. Dann müsste das Kind, in diesem Fall ich, beispielsweise nicht in den Keller gehen, um Schlagzeug zu spielen, damit es die Welt mal für eine halbe Stunde vergessen kann.
4.2 Eltern, Krankheitseinsicht und Tabuisierung
Mein Blick mag egoistisch erscheinen, nur auf das Kind fixiert und ohne dabei die Situation der erkrankten Eltern zu berücksichtigen. Ein Satz wie „Das Kind muss raus aus der Familie“ muss für diese wie eine Bestrafung klingen – und das ist das Letzte, was mir vorschwebt.
Wenn ich also aus der Sicht des Kindes schreibe, dann ist es genau das – und nicht mehr. Ich möchte mich für diese Sichtweise stark machen, denn es ist meine persönliche Sicht – aber auch nicht weniger. Noch immer gilt m.E., dass Kinder psychisch erkrankter Eltern „im Schatten stehen“ und demnach gleichsam „unsichtbar sind“, weil sich Hilfesysteme vorwiegend auf die Eltern – oder besser gesagt: auf die Krankheit – konzentrieren.
Keine Pauschalreaktionen
Die fehlenden Unterstützungsstrukturen zur Zeit meiner Kindheit zeugen von der Verbreitung dieser Sichtweise. Falls es überhaupt messbar sein sollte, so hat sich nominell zwar viel getan. Aber es erscheinen mir die Ausmaße der Unterstützung immer noch als vergleichsweise gering, wenn man sich die geschätzte Zahl von drei bis vier Millionen Kindern vor Augen führt – pro Generation!
Ebenfalls bin ich nicht in der Lage zu beurteilen, wann Erziehungsfähigkeit aufhört und ich möchte das auch gar nicht beurteilen müssen. Das soll Fachleuten überlassen bleiben. In meiner Situation gab es aber keinen Ausweg, keine Hilfe, keine Entlastung. Also treibt mich der Gedanke um, diese belastende Situation zu verlassen. Denn das wäre die schnellste und zunächst wirksamste Methode gewesen.
Dass das alles weit voraussetzungsvoller ist, als „einfach nur zu gehen“, ist offensichtlich. Und dass hierbei auch und gerade die Eltern einbezogen werden müssen, erachte ich als selbstverständlich.
Es darf keine Pauschalreaktion erfolgen!
Und dennoch muss ich für meinen Fall sagen: Ich hätte mir gewünscht, dass etwas über den Kopf meiner Mutter und den meiner Großeltern entschieden worden wäre. Denn diese haben eine Entlastung für mich verhindert. Damit werden heikle aber wichtige juristische Fragen berührt, die hier nicht abschließend behandelt werden können.
Dieser Fingerzeig ist zugleich auch eine meiner Quintessenzen, was die Entwicklung in der Debatte um Hilfen für Kinder mit psychisch erkrankten Eltern angeht:
- Wie kann dem Kind geholfen werden, wenn die Eltern das nicht wünschen?
- Was kann getan werden, wenn der erkrankte Elternteil krankheitsuneinsichtig ist?
- Wie wird überhaupt das Kind von den Unterstützungsstrukturen erkannt, wenn der erkrankte Elternteil krankheitsuneinsichtig ist und das Kind augenscheinlich zu funktionieren scheint?
Grundsatzdiskussion
Die hochdiffizile Frage von Zwangsmaßnahme wird letztlich eine Grundsatzdiskussion erzwingen, die schon aus historischen Gründen nicht leicht zu führen sein wird. Nicht ohne Grund haben wir eine Gesetzeslage, welche einer staatlichen Aktion zur Zwangsbehandlung enorme Riegel vorgeschoben hat, damit erst gar keine Willkür entstehen kann.
Zugleich müsste eine solche Debatte geführt werden, weil Kinder wie ich sonst zu lange ohne Unterstützung bleiben werden. Diese Debatte wird möglich sein, wenn sich die Strukturen zur Unterstützung für COPMI weitestgehend etabliert haben. Dann erst werden die Limitierungen dieser Strukturen erkennbar, weil dann spürbar wird, wen diese Strukturen gerade nicht erreichen – und warum.
Dass nicht (viel) über Psychosen im Alltag gesprochen wird, erschwert die Herangehensweise an Familien, in denen Eltern psychisch erkrankt sind, enorm. Dies erstaunt umso mehr, wenn man sich folgendes vor Augen führt:
Eine Wahrscheinlichkeit, an einer Psychose zu erkranken, ist für alle Menschen gegeben. Insofern sitzen wir alle im selben Boot – aber das Boot darf nicht thematisiert werden. Erst bei genauerem Hinsehen ergeben sich dann statistische Unterschiede, wie stark die Wahrscheinlichkeit ist. Aber das Boot bleibt dasselbe.
4.3 Heimaufenthalt vs. zu Hause
Es geht also um die Frage, welche Situation mehr belastend ist. Muss das Kind im Heim oder zu Hause mehr Belastung ertragen? Was wäre die optimale Situation? Und gibt es diese überhaupt?
Im Heim, so habe ich schon oftmals gehört, wiegt das schlechte Gewissen des Kindes („ich habe die Mutter alleine gelassen“) wohl am schwersten. Auch Heimweh, das eigene Fernsein vom elterlichen zu Hause wird ebenfalls als Belastung empfunden. Das gilt selbst bei gut ausgestatteten Heimen mit angemessener Infrastruktur und pädagogischen Standards.
Demgegenüber stehen die Belastungen zu Hause. Diese assoziiere ich mit Trauma, denn die Belastungen, um die es mir geht, sind de facto Überlastungen des Kindes: Das Kind kann das Elternteil nicht retten, obwohl es das gerne würde und es kann die Störungen in der nötigen stabilen Struktur des Alltags nicht kompensieren.
Wenn also die Mutter – wie bei mir – nachts ins Zimmer gestürmt kommt und tränenüberströmt vor Raub oder gar Mord an uns warnt, dann ist das eine fortlaufende Traumatisierung des Kindes. Zugleich wird das Bedürfnis des Kindes nach Ruhe und Geborgenheit, nach Grenzen und Achtsamkeit vernachlässigt. So kann das Kind nicht lernen, was Ruhe und Geborgenheit, Grenzen und Achtsamkeit überhaupt bedeuten und auch nicht einüben, wie es sich später als Erwachsener gut selbst regulieren kann.
Im Heim hingegen gehe ich davon aus, dass diese Grenzüberschreitungen nicht stattfinden.
Ich setze also voraus, dass das Kind im Heim mit verlässlichen Kontaktpersonen über seine Nöte sprechen kann und vermute, dass die Belastungen, die das Kind in einem Heim erfährt, weil es die Distanz zum Elternhaus innerlich aushalten muss, weniger schwer ins Gewicht fallen als der Aufenthalt zu Hause.
5 Resumé und Ausblick
Das wichtigste Ziel in der Unterstützung für Kinder von psychisch erkrankten Eltern muss die Entlastung der Kinder sein und die damit verbundene Verringerung von Belastungen, die auf das Kind einwirken.
Eine Reaktion darauf kann lauten, dass das Kind in alternativen Strukturen versorgt wird, die entsprechend professionell und angemessen ausgestattet sind. Immer ist dabei von der individuellen Situation auszugehen.
Besonders schwierig wird die Unterstützung, wenn die betroffenen Eltern selbst krankheitsuneinsichtig sind. Dann macht sich eine Regelungslücke deutlich, die nicht trivial ist und daher besonders schwer zu schließen sein wird: Wie kann einem Kind in einer solchen Situation geholfen werden, wenn der Tatbestand der Selbst- und/oder Fremdgefährdung richterlich nicht rechtzeitig an- und erkannt wird?
Auf diese Frage wird die Debatte um die Versorgungs- und Hilfsstrukturen für Kinder mit psychisch erkrankten Eltern perspektivisch hinauslaufen.
Für das Kind geht es dabei um nicht weniger als die Chance, ein normales Leben führen zu können.