Antistigmatisierung

Picture by Nikkito

Auf der DGPPN 2019 nahm ich an einem Symposien teil mit dem Titel: „Antistigma – Kinder psychisch kranker Eltern“.

Um es gleich vorwegzunehmen: Viel erhellendes habe ich von den Referenten nicht mitgenommen. Aber es hat im Nachgang zu einem kurzen Austausch mit einem der Redner geführt, Herrn Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner. Er referierte über Antistigma in der Kinder und Jugendpsychiatrie. Leider blieb sein Vortrag m.E. eher im Raum des Vortastens an die Rolle der professionellen Versorgungseinrichtungen im Spiel der Kräfte, was Stigmatisierung angeht. Denn Prof. Flechtner fokussierte vielmehr auf den Unterschied in der Kommunizierbarkeit von körperlichen Krankheiten auf der einen und geistigen Krankheiten auf der anderen Seite, warum also die Bezeichnung eine kommunikative Klarheit im Umgang mit psychischen Erkrankungen schwerer macht.

Aber sein Vortrag hat mich zu einem Gedanken inspiriert: der Benennung ebendieses auch im professionellen Kontext.

Stigma geht mit Tabu einher

Stigmatisierung geht im Kontext Kinder psychisch erkrankter Eltern – m.E. generell im Kontext „Psychose“ – immer mit Tabuisierung einher, auch und gerade wenn es um die Entstigmatisierung als Ziel gehen soll.

Wenn nicht über das in Rede stehende Thema gesprochen werden kann, kann auch kein Abbau des Stigmas erreicht werden, weil es dann nicht „entzaubert“ werden kann.

Zugleich bleiben somit auch Aufklärungsbestrebungen wirkungslos, was wiederum der Zuschreibung von Eigenschaften Vorschub leistet. Denn jeder muss sich sodann sein eigenes, vorurteilsbelastetes Bild von „der Krankheit“ als auch „der/dem Erkrankten“ und damit auch „den Angehörigen/Kindern“ machen.

Auch Profis sind betroffen

Was daraus für die Organisationsseite „Gesundheitssystem“ folgt, ist die Frage: Inwiefern können sich Mitarbeiter*innen des Versorgungssystems „Gesundheit“ selbst als Kinder von psychisch Erkrankten zu erkennen geben – und damit als Betroffene?

Meiner Erfahrung nach ist das nicht oder nur schwer der Fall, denn die möglichen (genauer zu eruierenden) negativen Sanktionen scheinen zu wirkungsmächtig. Eine davon ist die Unterminierung der eigenen Professionalität bzw. des Status, als Fachmensch wahrgenommen zu werden, weil man befürchtet, als „NUR Betroffener“ abgetan zu werden.

In diesem Sinne – und ich meine das alles mit der höchsten Wertschätzung – wirkt das Versorgungssystem durch Tabuisierung mittelbar an der Stigmatisierung der Betroffenen mit, weil sie damit ebenfalls die Sichtweise transportieren, „als sei nichts“.

Zugleich wirkt dieser Faktor wesentlich schwerer, als die gerade für Laien diffuse und schwer zu greifende dimensionale/kontextbezogene Diagnose. Denn das Versorgungssystem begegnet somit dem Betroffenen gerade auf der Beziehungsebene „Fachmensch – Betroffener/Patient“ eher distanziert, was kein Gefühl des „verstanden werdens“ etabliert.

Denn wieso sollte die Gauß’sche Normalverteilung in Einrichtungen des Versorgungssystems nicht gegeben sein? Geschätzt beinahe vier Millionen Kinder pro Generation haben ein psychisch erkranktes Elternteil. Das macht bis zu 16 Millionen Menschen in Deutschland über alle Generationen hinweg. Es wäre verwunderlich, wenn das nicht auch bei Pflegern, Verwaltung und Ärzten der Fall wäre.

Sensibilität

Ich meine, dass mir die Implikationen einer solchen Form der „Offenbarung“ dem Patienten gegenüber einigermaßen bewusst sind und dass damit auch berufsethische Fragen berührt werden. Denn sicherlich wäre „das System“ Gesundheit für diesen Schritt (noch) nicht bereit. Daneben würde es sich lohnen, diesen Schritt einmal in seinen Konsequenzen durchzudenken – und zwar über den reinen Kontext „Patient-Profi“ hinaus, denn ein System, das sich als „nicht betroffen“ darstellt, arbeitet mittelbar an der Tabuisierung mit.

Somit bleibt der von mir angesprochene und nur in groben Zügen skizzierte Mechanismus bestehen.

Ein sozialwissenschaftlicher Forschungsauftrag?

Meines Erachtens würde es sich lohnen, diesen Zusammenhang auch (sozial)wissenschaftlich genauer zu betrachten. Ohne an dieser Stelle vorab weiter recherchiert zu haben, fallen mir verschiedene Ansätze dazu ein, was bzgl. dieser Frage berücksichtigt werden müsste.

Aber was wäre eigentlich die Fragestellung?

Thesen

Zunächst stünden folgende Thesen im Raum:

These 1: Versorgungssysteme beteiligen sich an der Stigmatisierung, weil sie durch die Tabuisierung eine kommunikative Behandlung des Themas behindern.

These 2: Nur durch den Tabubruch können Mythen und Ängste abgebaut werden.

Grundsatzfragen

Sodann wären die Grundsatzfragen zu behandeln, die sich um Stigma und Tabu sowie deren Verhältnis drehen. Es bedürfe einer grundlegenden Beschreibung bzw. Begriffsdefinition:

  • Was ist Stigmatisierung? Woraus besteht sie? Worüber manifestiert sie sich?
  • Gibt es empirische Belege, worin sich das Stigma ausdrückt?
  • Welche Sanktionen gibt es?
  • Was genau ist das Wechselverhältnis zwischen Stigmatisierung und Tabuisierung?
  • Leistet Tabuisierung der Stigmatisierung Vorschub?
  • Oder verhindert Tabuisierung zumindest, dass das Stigma nicht abgebaut wird, weil nicht thematisiert werden kann, was eigentlich abgebaut werden soll?

Und konkreter auf das in Rede stehende Thema bezogen:

  • Gibt es überhaupt eine Stigmatisierung bzgl. psychischer Erkrankung? Und woraus besteht diese?
  • Warum sind auch Kinder psychisch Erkrankter von der Stigmatisierung betroffen, obwohl oder wenn diese nicht selbst psychisch erkrankt sind?

Weiterführende Fragen

  • Welche Akteure sind an der Stigmatisierung beteiligt?
  • Ist Stigmatisierung im Kern eine Zuschreibung? Ist es ein organisational gestützter Zuschreibungsprozess?
  • Welche Oganisationen wären an der Stigmatisierung interessiert? Welcher Akteur/welche Organisation hätte hier eine Zuschreibungs- und Definitionsmacht?

Empirische Ansätze

Aus welchen empirischen Blickwinkeln kann das Thema Stigmatisierung betrachtet werden?

  • Die Gruppe der direkt Betroffenen (der psychisch Erkrankten)
  • Die Gruppe der mittelbar Betroffenen: Kinder
  • Das Gesundheitssystem (Krankenhäuser vs. ambulante Einrichtungen, Profesionelle als Gruppe vs. Einzelne (Therapeuten etc.)

Inwiefern kann sich ein/e Beschäftigte*r im Gesundheitssystem selbst als Kind psychisch erkrankter Eltern bezeichnen?

  • Wie ist die Wahrnehmung der Kolleg*innen untereinander zwischen der Rolle als Betroffene einerseits und der Rolle als Profi andererseits? Entstehen hierbei Spannungsverhältnisse, weil man als Betroffene*r vielleicht nicht mehr als Profi akzeptiert wird?
  • Warum oder warum nicht ergeben sich Profis zu erkennen als #COPMI? Was befürchten diese, wenn sie es tun würden?

Und inwiefern hat das System „Gesundheit/Krankenhaus“ ein Interesse daran, dass sich ihre Belegschaften/Mitglieder nicht zu ihrer Rolle als #COPMI bekennen, sofern sie diese ebenfalls innehaben sollten?

  • Gibt es eine negative Sanktion im Falle der Erkennbarkeit/des Outings?
  • Gibt es offizielle oder leicht nachvollziehbare Erwartungshaltungen der Organisation „Krankenhaus“ oder „Therapeutenkammer“, dass eine solche Selbstoffenbarung vonseiten der Beschäftigten nicht vorgenommen wird?

Theoretische Fragestellungen

Ist „stigmatisieren“ eine Handlung im Weber’schen Sinne oder ist es eine Kategorie von Handlungen oder gar eine Institution?

Kurzum: Ich würde mich freuen, wenn sich hierzu Forscher eingeladen fühlen würden, diesen Fragen nachzugehen.

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2 Kommentare zu „Antistigmatisierung“

  1. Zitat: „Ich würde mich freuen, wenn sich hierzu Forscher eingeladen fühlen würden, diesen Fragen nachzugehen.“

    Lieber Christian,
    in der sozialpsychiatrischen Zeitschrift „Kerbe“, http://www.Kerbe.info, haben sich Fachleute verschiedener Disziplinen mit dem Thema Stigmatisierung und Selbststigmatisierung m. E. sehr intensiv und kritisch beschäftigt. Die Artikel sind sehr lesenswert. Darunter befinden sich auch selbstkritische Überlegungen, die m. E. in die richtige Richtung weisen.
    Liebe Grüße

    1. Liebe Anders57,

      herzlichen Dank für diesen guten Hinweis!

      Ich werde mir bei Gelegenheit die Beiträge durchlesen. Auf meinem Blog nehme ich mir natürlich die Freiheit, nicht alle Veröffentlichungen zu kennen, das würde m.E. den Rahmen sprengen und soll ja auch mehr zum weiterdenken und selbstreflektieren einladen.

      Danke abermals!

      Liebe Grüße
      Chris

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