Seit ca. 2011 trage ich den Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung #PTBS (oder auf Englisch: post-traumtatic stress disorder #PTSD) mit mir „herum“. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich darauf gestoßen bin. Als ich in dieser Zeit in eine Klinik bin, weil mich damals die Trauer um meine 2007 verstorbene Mutter so einholte, dass ich nur am weinen war, sagte ich bei der Anamnese: „Ich würde gerne in eure Traumagruppe.“ Aber die Verantwortlichen kamen dem nicht nach.
Beinahe 10 Jahre später kam mir das Thema wieder aufs Tablett – genauer gesagt: auf den Schreibtisch in dem Gästezimmer, das ich Ende 2019 bei einer Freundin für eine Nacht bezog. Dort lag das Standardwerk von Bessel van der Kolk, einem Niederländer im U.S.-Exil der Harvard University: The Body Keeps the Score. Das heißt so viel wie: Der Körper vergisst nichts und auch wenn man verdrängt, er wird es seinem Besitzer zeigen.
Etwas überrascht nahm ich das Buch in die Hand und hätte schon auf den ersten paar Seiten jeden zweiten Satz unterstreichen können. Wenig später nahm ich als Vertreter von Seelenerbe e.V. auf der DGPPN 2019 teil und versuchte, so viele Trauma-Symposien zu besuchen wir nur möglich. Dort, auf der DGPPN, stieß ich auch auf die DeGPT, die Deutschsprachigen Gesellschaft für PsychoTraumatologie.
Inzwischen hatte ich ja meine Scham schon so weit abgelegt, dass ich auch mal Menschen an irgendwelchen Fachständen einfach ansprechen kann. Mein Ziel: Ich wollte wissen, inwiefern das Thema #COPMI und #Trauma denn überhaupt Beachtung findet oder ob es gar eine Art Schwerpunkt sein könnte (dass es das bereits sei, konnte ich mir nicht vorstellen).
Suizide vs. Psychose
Ich wurde freundlich weiterverwiesen und durfte sodann mit einer der damaligen Vorstandsmitglieder telefonieren, eine Professorin an einer Fachhochschule für Sozialpädagogik u.a. Als ich ihr von meinem Fall berichtete, sagte Sie, dass es sie schon wundere, dass bisher kein Therapeut das PTBS-Thema explizit genannt hatte. Und sie sagte: „Na, ist doch klar, dass Sie ein Trauma haben! BEI ZWEI SUIZIDEN!“
Zunächst war ich natürlich froh, dass mal jemand diese Sichtweise sogleich verstand. Zugleich löste das aber auch Irritationen aus. Denn wenn ihr das so klar war, wieso hatte dann bisher kein (!) Therapeut mir das PTBS-Thema als so deutlich expliziert?
Die einzige Antwort, die ich darauf hatte, war, dass es eben vom Blickwinkel abhängt. Dass ein Profi, der tagtäglich mit Trauma beruflich zu tun hat, bei nahezu jedem zumindest erstmal die Möglichkeit der Traumatisierung „abklopft“, ist doch verständlich. Dass also ein anderer Profi, der in einem anderen Fach mit einem anderen Schwerpunkt „zu Hause“ ist, eben zuerst an diesen Schwerpunkt denkt, kann ich somit nachvollziehen. Andere Therapeuten, andere Schwerpunkte, andere Themen.
Dann fragte ich bei meiner letzten Therapeutin nach, was sie denn von dieser Sichtweise halte und sie schrieb zurück: „…, dass Sie durch den Suizid des Vaters und die Erkrankung ihre Mutter schwer belastet (traumatisiert) wurden, war immer klar.“ Okay, das überraschte mich dann doch. Wieso sie das nicht auch so expliziert hatte, habe ich sich dann erstmal nicht gefragt. Das kommt aber vielleicht noch…
Zwei Tage später kam mir plötzlich der Gedanke: Ist ja schon spannend, dass die Traumaforscherin zuerst auf die Suizide abhebt, als auf die psychische Erkrankung meiner Mutter. Selbstmorde, das scheint für viele ein sehr viel deutlicher und greifbarer Zusammenhang zu sein als das, was eine Psychotikerin so alles anstellen kann. Wenn ich aber sagen sollte, was mich wohl am meisten belastet hat, dann war es das: die paranoide Schizophrenie meiner Mutter und alles, was dies für mein Aufwachsen und meine Persönlichkeit bedeutete.
Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung
Für mich jedenfalls manifestierte sich das PTBS-Thema immer deutlicher, auch weil ich schon seit einiger Zeit auf die neue Trauma-Klassifikation in den ICD 11 hingewiesen wurde. Den Hinweis gab mir PD Dr. Ulrike Schulze aus Ulm, wo ich einmal einen Vortrag hielt. Sie meinte auch, dass sich damit viel ändern würde. Und das ist zugleich der zweite Aspekt, warum ich bisher nie explizit darauf verwiesen wurde, wenn es um Therapiesitzungen ging: Es tut sich einfach sehr viel in diesem Bereich und heute ist vieles anders, als damals, 2002, als ich meine erste Therapie begann.
Die ICD 11 enthält die komplexe PTBS (#kPTBS, hier eine Übersicht auf Deutsch) und wird damit wesentlich sensibler als die bisherige Klassifikation, die weiter bestehen bleibt. Man könnte es vielleicht so zusammenfassen: Die klassische PTBS, das sind die Kriegsveteranen, die Opfer von schlimmen Unfällen oder von Vergewaltigungen. Daher hat mir auch eine Freundin, die ich ebenfalls aus dem #COPMI-Kontext kenne und die selbst Betroffene ist, auch erzählt, dass sie sehr wohl mit der PTBS-Diagnose konfrontiert wurde. Aber: Sie erfuhr auch körperliche Gewalt – und das rückte sie m.E. als Traumapatientin in den Fokus der Behandler*innen.
Die komplexe PTBS wiederum ist sehr viel subtiler und weiter gefasst – aber daher auch schwerer zu erkennen, denn sie wird nicht selten verwechselt mit anderen Symptomatiken. Jetzt könnte man sich darüber streiten, was denn der Sinn einer so, in der Anwendung vermeintlich diffusen Definition ist. Aber ich möchte sogleich mein persönlich stärkstes Argument hierzu anführen: Ich fand mich sehr (!) in der kPTBS wieder und hatte das Gefühl: Ja, das kenne ich! Das kann ich unterschreiben! Das bin ich!
Vielleicht nicht zu 100 %, aber zu 80 % auf jeden Fall.
Einschlafroutine
Weiterhin Ende 2019 stolperte ich über einen Podcast mit dem Schlafforscher Albrecht Vorster, der das Zu-Bett-Gehen als wichtige Routine beschrieb, durch die dem Körper gleichsam signalisiert wird, dass es jetzt in die Ruhephase geht. Wir lernen also, dass ins Bett gehen auch abschalten bedeutet. Da ist es nicht so wichtig, ob das Licht des Tablets blau oder orange scheint, sondern wichtiger ist, dass wir uns nicht unnötig aufregen und mit dem zuletzt erlebten oder gesehenen dann versuchen einzuschlafen.
Wenn ich ins Bett gehe, dann kann ich machen, was ich will – nach wenigen Minuten in der Horizontalen schnellt mein Puls als auch mein Blutdruck hoch und ich kann nicht (gut) einschlafen. Es fühlt sich deutlich so an, als würde sich mein Körper geradezu dagegen wehren, loszulassen und in einen tiefen Schlaf zu fallen. Oder, wenn ich mal eingeschlafen bin, wache ich mitten in der Nacht auf und der Puls ist ähnlich.
Bett ist für mich gleich Terror
Bei Bessel van der Kolk las ich, dass es auch körperliches Erinnern des Traumas gibt. Auch das kann sich in der Diagnose als Flashback qualifizieren. Und Flashbacks sind gleichsam der harte Kern der klassischen PTBS, ohne Flashbacks wird dort nahezu nicht von Trauma gesprochen, so könnte man verkürzt sagen. Und das hatte ich ja nicht, so wie man das vom Klischee her kennt: Schweißausbrüche am helllichten Tag ohne ersichtlichen Grund, Tendenzen zur Selbstverletzung usw.
Aber als ich beide Seiten – körperliche Erinnerung und Einschlafroutine – miteinander verband, klingelte es bei mir: Mein Körper verbindet „ins Bett gehen“ mit Stress. Der Zusammenhang ist so offensichtlich wie frappierend, dass ich ihn nicht früher aus diesem Blickwinkel habe betrachten können. Denn was in meiner Kindheit und Jugend zu Hause passierte, wenn ich mich um 22:00 Uhr ins Bett legte, war, dass meine Mutter in ihrer schizophrenen Paranoia anfing, echten Terror zu machen. Sie schrie herum, schlug mit dem Tennisschläger in der Luft, um die vermeintlich fremden Mächte zu bekämpfen, die uns in ihrer Vorstellung mit Gummibändern und Maschinen fernsteuerten – und sie kam in mein Zimmer gestürmt, tränenüberströmt und rief, ich solle mein Geld verstecken, man wolle uns beklauen und sogar umbringen.
Kurzum: In so einem Szenario schläft man nicht gut ein.
Ich bekam das natürlich immer mit und erinnere mich an die Wut und den Zorn, der in mir losbrach, denn ich wollte schlafen.
Und das ging über Jahre so. Ich lebte beinahe zehn Jahre mit meiner Mutter zusammen. Mindestens sieben davon war sie schwer krank. Mein Bruder war mehr als fünf Jahre bei unseren Großeltern. Ich habe also das Meiste davon alleine abbekommen.
In dieser Zeit habe ich also „gelernt“, wenn ich ins Bett gehe, dann kommt der Terror.
Es ist vorbei!
Sollte der Schlafforscher recht haben, dass wir uns eine Routine antrainieren müssen, und dass unser Körper diese Routine als gelernten Weg zum herunterfahren, zum abschalten, zum entspannen und loslassen braucht, dann musste ich mir also beibringen, dass der ganze Stress, der ganze Terror nicht mehr stattfindet. Dass es also vorbei ist!
Ich stellte mich in mein Zimmer (das war Zufall, denn ich stand dort gerade, als ich diesen Gedanken hatte) und sagte mir – ganz ohne psychotherapeutisch-methodischen Unterbau – dass es vorbei sei. Ich sagte: „Es ist vorbei.“
„Es ist vorbei.“
„Es ist vorbei.“
Dreimal sagte ich mir das laut vor. Das reichte und ich brach in Tränen aus und musste heftigst weinen.
Dreimal! So wenig brauchte es, um in mir diese tiefe Trauer zu spüren. Ich schluchzte heftig und war zugleich verwirrt! Denn was war denn hier los? Ist das Trauer? Um was genau trauere ich? Und wieso verspürte ich auch so etwas wie Freude?
Ich habe nichts gegen Tränen – im Gegenteil. Aber ich brauche einen geschützten Raum dafür und vielleicht war es hilfreich, dass mein damaliger Mitbewohner nicht oft zugegen war in dieser Zeit. Jedenfalls konnte ich nahezu auf Kommando diese Traurigkeit abrufen. Und es gelang mir auch zum ersten Mal in meinem Leben, diese auf der Straße zuzulassen, wenn sie kam, ohne dass ich danach gefragt hatte.
Weinen, weil es so schön ist
Was mich am meisten beschäftigte, war die innere Nähe zu dieser Trauer und wie heftig sie jedes Mal kam. Und sie hatte mehrere Seiten. Zum einen war es sicher die Erinnerung an die Heftigkeit des Stresses und Terrors, die häusliche Hölle, der ich damals als Kind und Jugendlicher ausgesetzt war. Was hatte meine Umwelt über mich ergehen lassen? Und niemand hatte das gesehen und richtig eingeschätzt. In dieser Situation zu Hause zu bleiben, war sicherlich falsch für mich. Ich wäre lieber nicht dieser Belastung ausgesetzt gewesen.
Daneben aber verspürte ich auch ein Gefühl der anrührenden Entlastung. Dabei erinnere ich mich an eine Szene mit meinem ersten Therapeuten. Er fragte mich damals, was denn wäre, wenn es mir gut ginge.
Ich antwortete: „Dann würde ich traurig werden.“
„Warum?“, fragte er.
„Weil es so schön ist“, entgegnete ich.
Das ist also die positive Seite der Trauer, denn in ihrem Kontrast zur Traurigkeit wird über die Entlastung deutlich, welches Ausmaß das Traurige hatte. Wenn man die Entlastung spürt, bekommt die Belastung erst ihre ganze Tiefe und Dimension. Wenn wir keine Entlastung spüren, haben wir keine Begriffe für die Belastung, weil letztere zum einen alltäglich, gefährlich „normal“ und daher Teil unserer Lebenswelt wird und weil sie sich zum anderen daher nicht abgrenzen oder abheben kann, gegen das, was positiv ist.
Es ist ein nahezu kathartischer Moment der Befreiung.
Aber wie geht es weiter? Wie lange muss ich noch so heftig trauern und weinen, bis ich halbwegs gut ein- und durchschlafen kann? Die See der Tränen erscheint endlos…
Mit dem „Zugriff“ über die Traumatisierung bekommt das Ganze einen Namen und den Dingen Namen zu geben, ist wichtig für uns als Menschen, denn es geht dabei um Identität. Identität heißt hierbei vor allem: sich selbst zu kennen. Nur wenn ich durch das Leben gehe und keine Begriffe für meine Zustände – ob innerlich oder äußerlich habe – dann werde ich ein rastlos Suchender bleiben.
Trauma also.
Und Trauer. Endlos.