COPMI, Traumatisierung und ökonomische Folgen

Photo: Min An

Ein Mensch ist keine Maschine – und niemand wurde geboren, um zu arbeiten. So zumindest lautet die humanistische Grundausrichtung einer Gesellschaft, die das Primat der Politik noch immer als Grundsatz anerkennt.

Zugleich werden allenthalben die unterschiedlichsten Teilbereiche der Gesellschaft unter Prämissen des ökonomischen Erfolges gestellt: Eine Universität muss sich am Markt bewähren; eine Klinik muss profitabel sein.

Da verwundert es etwas, dass ganzen Gruppen eine entsprechende Aufmerksamkeit und Unterstützung verwehrt wird, und diese ihr ökonomisches Potenzial so nicht voll entfalten können. Denn diese volle Entfaltung wäre, und damit wären wir sogar ganz bei Adam Smith, zugleich auch ein Gewinn für das Gemeinwohl. Diesen Gewinn erreichen wir heutzutage und in den westlichen Industrieländern zuvorderst mittels der nationalstaalichen Erhebung von Steuern.

12 bis 16 Millionen COPMI

Die Gruppe, von der hier die Rede ist, sind die Kinder psychisch erkrankter Eltern und sie umfasst mehr als 10 Millionen Menschen. Das wäre bereits ein Achtel der bundesdeutschen Bevölkerung.

Wie setzt sich diese Zahl zusammen?

Die Datenlage ist denkbar schlecht und rekurriert bisweilen ausschließlich auf Schätzungen aus den frühen 10er Jahren:

„Expertinnen und Experten gehen heute davon aus, dass jedes vierte Kind (somit geschätzte drei bis vier Millionen Kinder) einen vorübergehend oder dauerhaft psychisch erkrankten Elternteil hat“

Deutscher Bundestag Drucksache 18/12780, S.1

und:

„etwa 2,6 Millionen Kinder wachsen in suchtbelasteten Familien auf“

Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung, Juni 2016, S.117

Es gibt also insgesamt und über alle Generationen verteilt ca. 12-16 Millionen Kinder mit vorübergehend oder dauerhaft psychisch erkranktem Elternteil. Und 9-12 Millionen davon sind erwachsene Kinder.

Für Kinder in suchtbelasteten Familien liegen die Zahlen demnach bei 10,4 Millionen Kindern bzw. bei 7,8 Millionen für die erwachsenen Kindern.

Pro 100.000 Einwohner sind das – über alle Generationen gerechnet – knapp 17 Tsd. (ca. 17%) Kinder mit psychisch erkranktem Elternteil und ca. 12,7 Tsd (ca. 13 %) erwachsene Kinder.

In Berlin alleine würden demnach ca. 587 Tsd. Kinder mit psychisch erkranktem Elternteil über alle Generationen gerechnet leben. Davon ca. 440 Tsd. erwachsene Kinder. In einer Stadt wie Heidelberg mit nur 154.000 Einwohnern wären es noch ca. 26 Tsd. Kinder und ca. 19,5 Tsd. erwachsene Kinder.

PTBS als Minderungsfaktor

Es ist davon auszugehen, dass deren Kindheit und die damit verbundenen Belastungen nicht zur Leistungssteigerung beitragen. Weitergehende Informationen dazu finden sich in den einschlägigen Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre.

Dass das Aufwachsen in einem Elternhaus mit psychisch erkrankten Eltern auch Traumafolgen bedeuten kann, ist für den Moment, in dem dieser Beitrag geschrieben wird, noch immer keine weit verbreitete Lehrmeinung. Zugleich hat sich in der Traumatologie in den letzten zehn Jahren sehr viel verändert, welche diesen Blickwinkel künftig aber weiter promovieren wird.

Etwa wurde in die ICD 11 die Symptomatik der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) aufgenommen. Dass #COPMI (Children Of Parents with a Mental Illness) in diesen Symptomkreis einzubeziehen sind, lässt sich aus den beschriebenen Symptomatiken ablesen – wenngleich hierzu sicherlich noch Forschung nötig ist, um diesen auch quantitativ zu belegen.

Aus persönlicher Erfahrung und Gesprächen mit anderen COPMI im Verein Seelenerbe e.V. sowie in anderen Kontexten heraus hat sich mein Fokus auf dieses Thema gerichtet, weil die Übereinstimmungen gerade in der Symptomatik gleichsam erschreckend zutreffend sind. So war ich beim Lesen des Klassikers von Bessel van der Kolk selbst überrascht und konnte gleichsam jeden zweiten Satz unterstreichen, da ich mich sooft darin wiederfand.

Im Folgenden möchte ich mich vorwiegend auf die Deutsche Traumafolgekostenstudie (DTfs 2012) aus dem Jahre 2012 beziehen. Dort trifft m.E. schon die einfache Traumadefinition oftmals auf Kinder psychisch Erkrankter zu:

Traumatisierung wird in diesem Kontext als extreme Stressbelastung im Kindes-/Jugendalter verstanden, entweder in Form eines einzelnen belastenden Ereignisses (z.B. einmaliger sexueller Missbrauch) oder als Resultat einer Summe von Belastungen (z.B. bei Vernachlässigung), woraus ein erhöhtes Risiko für Traumafolgestörungen hervorgeht.

Traumafolgestörungen wiederum sind psychische und somatische Krankheiten und Störungen der Gesundheit sowie Beeinträchtigungen aller anderen Lebensbereiche, welche infolge von Traumatisierung mit erhöhter Wahrscheinlichkeit im Laufe des weiteren Lebens auftreten können.

DTfs 2012, S. 118

Im Fokus für COPMI steht also vor allem jene Traumatisierung aufgrund einer Summe ganz unterschiedlicher Belastungen. Dazu zählen m.E. die bereits genannte Vernachlässigung (die sich in ganz unterschiedlicher Weise zeigen kann) oder ständige Grenzüberschreitungen (das Kind wird nicht in Ruhe schlafen gelassen), Überforderungen (das Kind wird mit Aufgaben betraut, die nicht altersgerecht sind) oder auch das Ausbleiben der Ausbildung einer gesunden Identität, weil das erwachsene Gegenüber nicht als verlässlicher Kommunikationspartner und Orientierungspunkt agieren kann.

Wohlgemerkt: Es geht hierbei nicht um punktuelle, also vereinzelt auftretende Situationen, sondern um ständiges, mindestens aber häufig wiederkehrendes Erleben von Frustrationen des Kindes im Austausch und Kontakt mit dem Elternteil.

Etwa war in meinem Fall eine Kommunikation mit meiner Mutter nicht mehr möglich, denn ich wurde nicht (mehr) als vollwertiger Gesprächspartner akzeptiert. Vielmehr wurde mir die eigene Kompetenz des Handelns abgesprochen, indem meine Mutter der Meinung war, wir würden durch fremde Mächte mittels Kästen und Fäden kontrolliert. Meine Sätze und Aussagen waren damit nicht mehr als von mir gesprochen anerkannt, was einer Negierung der eigenen Meinung gleichkommt – und das macht wütend.

€ 11 Milliarden pro Jahr

In der Studie zu Traumafolgekosten werden COPMI nicht eindeutig als Betroffene definiert. Man könnte auch sagen, dass hier die COPMI wiederum im Schatten bleiben und vergessen werden – was auch ins bereits oben beschriebene Bild der noch zu erwartenden Verknüpfung beider Themen passt.

Zwar werden relative Anteile der Betroffenen genannt, dabei wird aber vor allem auf sexuelle Misshandlungen abgehoben. Insgesamt wird von ca. 14.000 Kindern (unter 18 Jahren) gesprochen, was generationenübergreifend also ca. 54.000 Menschen ausmacht.
Im Gegensatz zu den 12-16 Millionen (!) COPMI, die ebenfalls geschätzt sind, ist das ein Bruchteil.

Das Potenzial der durch PTBS verursachten Kosten liegt also um ein ca. 1000-faches höher, wenn man annimmt, dass alle COPMI eine erhebliche Traumasymptomatik aufweisen.

EXKURS: Ich gehe davon aus, dass eine so geartete Verallgemeinerung nicht zulässig ist. Man kann annehmen, dass jede Situation eines Kindes mit psychisch erkranktem Elternteil individuell verschieden ist, schon weil sich eine Psychose weitgehend individuell äußert. Daneben sind nicht alle Familiensysteme gleich aufgestellt, weil verfügbare Verwandte, unterstützende Freunde, überhaupt das Umfeld und die damit zusammenhängenden Ressourcen in verschiedenen Fällen wohl niemals exakt dieselben sind. Zugleich gehe ich aber davon aus, dass das Aufwachsen als COPMI signifikant anders ist, als jenes eines vergleichbaren Kindes OHNE psychisch erkrankten Elternteil. EXKURS ENDE

Die Studie ermittelt jährliche Kosten in der Höhe von € 11 Milliarden.

Dabei fasst sie unter dem PTBS-Aspekt verschiedene Folgen zusammen, um letztlich die Kostenfaktoren deutlicher hervortreten zu lassen und diese dadurch auch besser berechnen zu können.

Zu diesen Folgen gehören:

  • Posttraumatische Belastungsstörung
  • Depressive Störungen
  • Angststörungen
  • Suchterkrankungen
  • Somatoforme Störungen
  • Persönlichkeitsstörungen
  • Störungen des Sozialverhaltens
  • Übergewicht
  • Diabetes mellitus
  • Bluthochdruck
  • Ischämische Herzkrankheiten

(vgl. DTfs, S. 32 ff.)

Bei der Kostenabschätzung handelt es sich vor allem um die Versorgungs- und Unterstützungskosten, also jene aus dem Gesundheitssystem. Diese alleine belaufen sich – je nach Schätzung – auf bis zu € 3,3 Mrd.

Es spielen viele Faktoren in die Folgekostenberechnung mit ein, die nicht nur im Gesundheitssystem liegen müssen (etwa könnte auch das Rechtssystem berücksichtigt werden, wenn Verhandlungen geführt werden müssen, weil Misshandlungen strafrechtlich verfolgt werden o.ä.). Aber auch Kosten, die Betroffene selbst tragen müssen, etwa wenn ihnen Gewalt widerfährt und sie Schäden bezahlen müssen, können berücksichtigt werden.

Die Schätzung von € 11 Milliarden ist zugleich konservativ:

Vor diesem Hintergrund stellt das Ergebnis in Höhe von 11,0 Mrd. Euro jährlichen Traumafolgekosten für Deutschland eine Annäherung an die realen Kosten dar. […] Die Ergebnisse sind als konservativ einzuschätzen, da die Herangehensweise eine Überschätzung der Kosten konsequent versucht zu vermeiden.

DTfs, S. 118

Damit liegt das Potenzial der möglichen zusätzlichen Kosten, die nicht berücksichtigt werden, weit darüber, wenn COPMI ebenfalls miteinbezogen würden.

Individuelle – mikroökonomische – Potenziale

In den vergangenen Jahren beobachte ich bei COPMI, die mir begegnen, dass diese oftmals Berufen nachgehen, die unter ihrem Potenzial, ihrer Ausbildung und nicht zuletzt unter ihren Fähigkeiten liegen. Teilweise suchen sich COPMI gar den Ausweg, gar nicht am Arbeitsleben teilzunehmen, wenn sie dies können (etwa indem sie von/m der/m Partner*in unterstützt werden).

Vielen ist diese Art der Berufs- und Lebensführung bewusst ist – und sie würden auch nichts dagegen unternehmen. Das liegt an Ängste, die etwa mit Überforderung u.ä. zu tun haben, was also wieder im Kontext von Stress und damit von PBTS gesehen werden kann.

Meine These: COPMI bleiben als Patienten mit PBTS hinter ihren Möglichkeiten zurück.

Das hat m.E. wiederum Effekte auf die Selbstwahrnehmung im Sinne von Identität und nicht zuletzt auf die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilnahme. Hierbei geht es um jenen Zusammenhang, der aus der Arbeitsforschung als (positiver) Effekt der (individuellen) Beschäftigung auf die eigene Persönlichkeit des/der Beschäftigt*en gewürdigt wird.

Kurzum: Stolz, Anerkennung als auch Selbstwert werden – auch – aus der beruflichen Tätigkeit gezogen. Umgekehrt heißt das: Kann keine, den eigenen Fähigkeiten angemessene Tätigkeit ausgeübt werden, können sich die positiven Effekte nicht entsprechend einstellen.

Makroökonomische Potenziale

Damit ist der Zusammenhang auch zu volkswirtschaftlichen, also makroökonomischen Effekten hergestellt. Denn eine Gesellschaft, deren Mitglieder ihrem vollen Potenzial näher kommen können, kann grundsätzlich als leistungsfähiger eingestuft werden.

Ein besserer, präventiv greifender Ansatz, der also auch mit Fragen der Tabuisierung und Stigmatisierung einhergeht (was ebenfalls in der Studie erwähnt wird), könnte demnach nicht nur Folgekosten verringern, sondern auch Potenziale auf makroökonomischer Ebene freisetzen.

Dazu gehören de facto materielle Gewinne „nur“ als letzte Konsequenz. D.h., mehr gesamtwirtschaftliche Produktivität ist das Eine.

Das Andere sind Entfaltungsmöglichkeiten im kreativen Bereich: Das Nutzen von Potenzialen kann sich auch in Entwicklung einer zunehmenden Vielfalt niederschlagen, die nicht rein ökonomischer Natur sein muss. Kunst und Kultur gehören also ebenso zur Nutzung dieser Potenziale wie auch das Gründen von Start-Ups oder überhaupt der Übernahme von Aufgaben, die den eigenen Fähigkeiten entsprechen.

Die vorliegende Studie ist m.E. die einzige, die für Deutschland bisher überhaupt eine Kostenabschätzung von Traumafolgen vorgenommen hat. Seit 2012 ist in dieser Hinsicht nichts maßgebliches mehr veröffentlicht worden (Stand 04/2020).

Zugleich beklagen auch die Autoren die schlechte Datenlage, um bessere Aussagen zu treffen, kommen aber selbst bei einer konservativen Schätzung auf € 11 Milliarden an Kosten, die durch Traumafolgen verursacht werden. Dabei ist die Gruppe der mehr als 12 Millionen erwachsenen COPMI gar nicht explizit berücksichtigt. Selbst bei einer Überschneidung dieser mit der in der Studie betrachteten Traumagruppen würde sich sehr wahrscheinlich eine maßgeblich höhere Kostenschätzung ergeben.

Darüber hinaus birgt die Verhinderung von Traumatisierungen zwei nennenswerte Potenziale: zum einen die vollumfängliche Berücksichtigung von COPMI in Vor- und Nachsorge würde deren Kosten im Traumakontext vermutlich signifikant verringern. Zum anderen könnten alle COPMI, denen das Trauma im Elternhaus erspart bliebe, ihre berufliche und lebensgestalterische Karriere adäquater und in diesem Sinne erfolgreicher, weil befriedigender angehen.

Es gibt noch viel zu tun!

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